FOCUS-Online-Redakteurin Anna Schmid
Freitag, 21.01.2022, 12:18
Wenn Jürgen Benecke über den 31. Dezember 2021 spricht, klingt er traurig. "Für mich war das eine schwere Entscheidung, über die ich lange nachgedacht habe", sagt er. Benecke meint seinen Austritt aus der SPD. Nach knapp 30 Jahren Parteimitgliedschaft kehrte der 58-jährige Kommunalpolitiker den Sozialdemokraten den Rücken.
Damit gehört er zu den rund 22.000 Menschen, die 2021 aus der SPD ausgetreten sind. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet, entspricht das einem Mitgliederverlust von rund fünf Prozent. Die SPD rutscht damit sogar unter die symbolisch wichtige Marke von 400.000 eingeschriebenen Anhängern, am 31. Dezember hatte die Partei noch 393.727 Mitglieder.
Benecke stammt aus Beetzendorf, einer 3500-Einwohner-Gemeinde in Sachsen-Anhalt. 1993, kurz nach dem Mauerfall, trat er in die SPD ein. "Für mich war das eine neue Chance, mich nach der Wende zu beteiligen, es war wirklich eine tolle Zeit", sagt er. Benecke war damals 29 Jahre alt, heute ist er Gemeindevertreter und Vizechef der Fraktion Grüne Liste/SPD im Beetzendorfer Rat. Inzwischen allerdings als Parteiloser.
Wie kann es passieren, dass ein überzeugtes Parteimitglied nach rund 30 Jahren sagt: Das wars jetzt, auf Wiedersehen, SPD?
Für Benecke ist die Antwort auf diese Frage einfach. Er erinnert sich an die Bundestagswahl 2021, an eine Zeit, als er für den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch durch die Gemeinde zog und Wahlplakate klebte. "Ich habe sehr darauf gehofft, dass sich mit der neuen Regierung politisch einiges ändert, in Sachen Klimapolitik, Digitalisierung, aber auch beim Thema Corona", sagt der Kommunalpolitiker.
Nach dem Sieg der SPD zeichnete sich für Benecke aber schnell ab, dass einige Versprechen aus dem Wahlkampf nicht eingehalten werden.
Benecke fühlte sich angelogen. "Ich habe ihn gewählt und darauf vertraut, was er sagt. Und dann macht er so eine Kehrtwende", sagt er. Die Glaubwürdigkeit des Kanzlers, aber auch der SPD, bekam für den 58-Jährigen tiefe Risse. So tief, dass für ihn klar war:
Der politische Meinungswechsel beim Thema Impfpflicht verärgerte nicht nur Benecke. Die "Zeit" veröffentlichte im Dezember vergangenen Jahres einen Kommentar, in dem vom "eklatantesten Wortbruch in der jüngeren Geschichte der deutschen Politik" die Rede war.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt an einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg nach ihren Gesprächen im Kanzleramt teil.
Für das Vertrauen in die Regierung, aber auch einzelne Parteien wie die SPD, kann ein solches Verhalten fatal sein. Benecke jedenfalls glaubt, dass er nicht das einzige SPD-Mitglied ist, das die Partei wegen mangelnder Glaubwürdigkeit verlassen hat.
Tatsächlich ist Vertrauen in die Politik und speziell die eigene Partei sehr wichtig, wie Politikwissenschaftler Frank Brettschneider im Gespräch mit FOCUS Online erklärt. Er sagt: "Je moralisch aufgeladener, je kontroverser und wichtiger ein Thema für den Einzelnen ist, desto eher kann es ein Grund für ein Ausscheiden aus der Partei sein."
Selten sei es aber der Frust über eine einzelne Aussage, der eine Person zum Parteiaustritt motiviere. "Meist ist das nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt." Viel wichtiger für die Erklärung des SPD-Mitgliederschwunds sind laut Brettschneider langfristige Trends. Denn: "Den Rückgang gibt es schon seit den 1970er Jahren, bei der CDU ist im übrigen eine ähnliche Entwicklung zu beobachten."
Die Individualisierung der Gesellschaft, das Wegsterben alteingesessener Mitglieder und die nachlassende Bindung zu Organisationen beschreibt Brettschneider, der an der Universität Hohenheim lehrt und unter anderem zur politischen Kommunikation forscht, als zentrale Gründe für die schrumpfende Mitgliederzahl. Wer sich heute politisch engagieren will, muss nicht mehr der SPD, CDU oder anderen Parteien beitreten.
Verschiedene Untersuchungen haben außerdem ergeben, dass soziale Milieus, die ursprünglich geeignet waren, um Mitglieder zu rekrutieren, über die Jahre ihre Prägekraft verloren haben. SPD-Mitglieder sind heute etwa nicht mehr automatisch in Gewerkschaften oder der Arbeiterwohlfahrt organisiert.
Brettschneider glaubt, dass auch die Ampel-Koalition zur Mitgliederabwanderung bei den betroffenen Parteien, insbesondere der SPD, beitragen könnte. Wer zusammenarbeitet, muss schließlich Kompromisse eingehen. Das kann zur Verwässerung der Parteienprofile führen.
"Wenn wir uns die Statistiken anschauen, sind gerade die Parteien mit dem klarsten Schwerpunkt die, die in den vergangenen Jahren die größten Zuwächse hatten. Sprich, die klimaorientierten Grünen und die AfD, die ihren Fokus auf Zuwanderung gelegt hat."
Benecke sagt, dass ihm der Austritt aus der SPD immer noch "weh tut". "Ein Zurück gibt es für mich trotzdem nicht mehr." Der 58-Jährige ist überzeugt, dass er sich auf dem Land auch als Parteiloser engagieren kann. Plakate für Olaf Scholz wird er in Zukunft nicht mehr kleben.
Quelle: focus.de